Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

„Viele Ursachen von Naturkatastrophen sind politisch und sozial bedingt“: Interview mit David Alexander

21.09.2015

Bianca Schröder

Dr. Bianca Schröder

bianca [dot] schroeder [at] rifs-potsdam [dot] de

Die Weltbevölkerung wächst, der Klimawandel schreitet ebenso voran wie die Urbanisierung und die internationale Verflechtung von Volkswirtschaften. All das sorgt dafür, dass extreme Naturereignisse eine zunehmende Gefahr für uns darstellen. Solche großen globalen Herausforderungen stehen im Mittelpunkt der zweiten internationalen Potsdam Summer School mit dem Titel „Facing Natural Hazards“, die vom 14. bis 23. September stattfindet. Einer der bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet ist David Alexander, Professor am Institute for Risk and Disaster Reduction am University College London. Er sprach für die Summer-School-Teilnehmer über Katastrophenbewältigung. Bei unserem Interview fragte ich ihn auch, was geschehen muss, bevor es zur Katastrophe kommt, und warum es so schwer ist, Wissen in Handeln umzusetzen.

David Alexander ist Professor für Risiko- und Katastrophenvorsorge am University College London. Er ist Autor der Bücher „Natural Disasters“, „Confronting Catastrophe“, „Principles of Emergency Planning and Management“, „Recovery from Disaster“ (mit Ian Davis) and „How to Write an Emergency Plan“ (erscheint in Kürze). Er ist Chefredakteur des International Journal of Disaster Risk Reduction. Zu seinen Forschungs- und Lehrinteressen gehören Naturgefahren, Erdbebenkatastrophen, Kultur und Katastro

Wie kann uns die Wissenschaft im Umgang mit Naturkatastrophen helfen?

Eine differenziertere Sicht auf Naturkatastrophen ist langfristig hilfreich. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass Ursachen von Naturkatastrophen häufig politisch und sozial bedingt sind. Das Ereignis ist dem Zufall geschuldet, aber die Schadensanfälligkeit – das Risiko, dem sich Menschen aussetzen – ist ausschlaggebend dafür, ob die Gefahr sich zur Katastrophe entwickelt. Kurzfristig sind Machtstrukturen, Politik, Entscheidungsprozesse und vor allem die Schadensanfälligkeit ausschlaggebend.

Was genau machen Entscheidungsträger falsch?

Ganz allgemein kann man sagen: Weder Regierungen noch Kommunen machen sich Gedanken über Naturkatastrophen, solange sie nicht dazu gezwungen werden. Und das liegt daran, dass Negativereignisse bei den Wählern nicht hoch im Kurs stehen. Wenn Sie der Bevölkerung eine bessere Abwasseraufbereitungsanlage versprechen, bringt Ihnen das keine Wählerstimmen. Wenn Sie aber versprechen, dass bekannte Schauspieler und Entertainer auf dem Marktplatz auftreten, könnten Sie schon eher Stimmen einheimsen. Das kann ernste finanzielle Folgen haben. Seit Jahrzehnten wissen wir, wie wir uns besser gegen Naturgefahren schützen können, aber die Meinung ist weit verbreitet, wir würden Geld sparen, wenn wir uns nicht vorbereiten. Wenn dann Naturkatastrophen eintreten, müssen wir reagieren, und die Kosten sind sehr viel höher, als wenn wir rechtzeitig Vorkehrungen getroffen hätten.

Bei der Vorbereitung auf dieses Interview habe ich Ihre kleine Antrittsvorlesung auf Youtube gesehen, in der Sie den Zusammenhang zwischen Katastrophenschutz und Menschenrechten hervorheben. Aber das Beispiel von zwei unterschiedlichen Wahlversprechen, das Sie gerade genannt haben, zeigt, dass Risikosenkung auch in funktionierenden Demokratien einen schweren Stand hat.

Aus verschiedenen Gründen gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Katastrophenschutz und Menschenrechten. So bedeutet Verweigerung, Beschränkung oder Unterdrückung von Menschenrechten, dass Menschen keinen Zugang zu den nötigen Informationen haben, um ihre Risiken zu senken. Das heißt auch, dass die Betroffenen in diesem Bereich einen sehr begrenzten Aktionsspielraum haben – was sie tun, wird von der Regierung unter Umständen höchst misstrauisch beobachtet. Das kann heißen, dass die Regierung blindlings politische Maßnahmen diktiert, vielleicht nicht lernwillig ist oder den Katastrophenschutz vernachlässigt. Und wenn der Alltag zur Katastrophe wird, genießt die Risikominderung natürlich keine Priorität. In Syrien besteht ein Erdbebenrisiko, aber selbst ein schweres Erdbeben wird angesichts der Ereignisse dort in den Hintergrund treten.

Es gibt auch eine Schnittstelle zwischen Menschenrechten und Korruption, die ganz erheblichen Einfluss auf Katastrophenrisiken hat, weil Katastrophen skrupellosen Personen und Regierungen eine Chance bieten. Wichtig ist hier, sich klar zu machen, dass Korruption viele Formen annehmen kann. In Großbritannien haben wir ein Problem mit elite capture, das heißt, die Eliten haben die politische Agenda gekapert. Die soziale „Säuberung“ Londons schreitet mit wachsendem Tempo voran, und die Resilienz angesichts von Risiken wie Terrorismus, Überschwemmungen, Stürmen, Stromausfällen, dem Zusammenbruch des Nahverkehrs oder dem Verlust von Basisdienstleistungen wird dadurch schwer beeinträchtigt. Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise 2008 hat sich die Zahl der Milliardäre in London verdoppelt. Gleichzeitig hat sich auch die Armutsquote verdoppelt. Die Armen finanzieren die Reichen, und das ist nicht gut für den Katastrophenschutz.

Konnten Sie die Folgen dieser wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in London bei neueren Extremwetterereignissen beobachten?

Bei den letzten Überschwemmungen im Themsebecken zeigten sich die Auswirkungen des elite capture in Windsor und Eaton, die zu den reichsten Kommunen Großbritanniens gehören. Ihnen gelang es, die Themse in ein Gebiet umzulenken, in dem die untere Mittelschicht lebt. Arbeiterviertel gibt es hier nicht – wenn es sie gäbe, wäre der Fluss natürlich dorthin umgeleitet worden. In den Wohngebieten der Upperclass gab es also keine oder kaum Überschwemmungen, dafür mehr Hochwasser in den weniger begüterten Vierteln. Und wenn man sich noch so eingehend mit Hydrogeologie, Meteorologie und so weiter beschäftigt, die realen Folgen von Naturgefahren haben viel mit politischen Entscheidungsprozessen zu tun.

In Nepal hatten die Menschen über lange Zeit versucht, den Katastrophenschutz zu verbessern, bevor im April dieses Jahres das schwere Erdbeben zuschlug. Dennoch kamen dabei mehr als 6000 Menschen ums Leben und mehr als doppelt so viele wurden verletzt.

Die politische Polarisierung hat viel dazu beigetragen, den Erdbebenschutz in Nepal auszubremsen. Als ich 2008 in Kathmandu war, gab es die ausgefeiltesten Untersuchungen zu den Naturgefahren. Sie waren durchaus wertvoll, aber schon wenn man in einem zerbeulten Suzuki-Taxi durch die Stadt fuhr, konnte man genau erkennen, welche Gebäude gefährdet waren. Und warum waren sie nach wie vor gefährdet? Nepal hat die wissenschaftlichen Erkenntnisse durchaus genutzt. Es gab das GIS [geografisches Informationssystem], Experten hatten teure Studien zu den Gegenden ausgearbeitet, wo es Überschwemmungen und wo es erhebliche Schäden geben könnte; was aber nicht vorhanden war, waren Seile, Schutzhelme, Leitern und Erste-Hilfe-Kästen. Es besteht eine Neigung, Geld für ausgeklügelte Technik auszugeben und dabei Grundlegendes zu übersehen. Solange es nicht an jeder Straßenecke geschulte Einsatzkräfte gibt, werden wir die Menschen nicht retten.

Wir haben viel über die Probleme mit dem Katastrophenschutz gesprochen. Können Sie Länder oder Regionen nennen, die Vorbildliches geleistet haben, um ihre Resilienz gegenüber Naturkatastrophen zu verbessern?

Schweden hat ein ziemlich gutes System. Die Naturkatastrophe, die Schweden am schlimmsten getroffen hat, war der Tsunami im Indischen Ozean 2004, durch den 495 schwedische Touristen umkamen. Die Schweden holten die Toten zurück und wussten nicht, was sie nun anfangen sollten – auf eine hohe Zahl von Todesopfern war man nicht vorbereitet. Die Regierung gründete daraufhin die Schwedische Agentur für Katastrophenschutz. Das hat nicht funktioniert, und die Schweden waren so aufrichtig, das Vorhaben noch einmal neu aufzuziehen. 11,5 Monate später hatten sie das beste System der Welt. Die Agentur beschäftigt sich mit dem ganzen Spektrum an Gefahren und Risiken, vom alltäglichen Verkehrsunfall bis hin zu großen Katastrophen. Der wesentliche Punkt bei dem Ansatz ist die Partizipation: Mündige Bürger beteiligen sich. Ehrenamtliches Engagement ist hilfreich, weil es Menschen mit Verwaltung und Regierung in Kontakt bringt.

Header-Photo: Charles Hadfield, CC BY 2.0

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