Weniger Zahlen, mehr Fürsorge: Wie indigenes Wissen der Arktis helfen kann
25.02.2019
Schmelzendes Eis, mehr Schiffsverkehr, weniger Rentiere – in der Arktis sind die Folgen des Klimawandels schon jetzt deutlich spürbar. Wie geht die dortige Bevölkerung mit den Veränderungen um? Jocelyn Joe-Strack, eine indigene Wissenschaftlerin und Unternehmerin aus der kanadischen Arktis, berichtete in Potsdam darüber, warum Zahlen nicht die ganze Wahrheit offenbaren und wie ihre Volksgruppe eine ganzheitlichere Verbindung mit der Natur wiedererlangen will.
Der Titel ihres Vortrags lautete „Klimawandel in der Arktis: Wie indigenes Wissen und Wissenschaft helfen können“. Eigentlich gehe es aber nicht um Wissen, betonte Joe-Strack: „Wir versuchen nicht, Wissenssysteme miteinander zu verknüpfen, sondern wir wollen unsere Art zu sein zurückgewinnen.“ Über die Schwierigkeiten auf diesem Weg diskutierte sie mit Hugues Lantuit (Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung), Volker Rachold (Deutsches Arktisbüro, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung), Kathrin Stephen und Vilena Valeeva (beide IASS Potsdam).
Mit Fürsorge und Pflichterfüllung Natur und Klima schützen
Joe-Strack berichtete von dem Konflikt um ein Wasserkraftwerk im traditionellen Gebiet der Champagne and Aishihik First Nations: Seit über 40 Jahren nutzt der Energieversorger Yukon Energy den Aishihik-See zur Energieerzeugung. Yukon Energy wendet wissenschaftliche Kriterien an, etwa in Bezug auf die Anzahl der Fische, um den Gesundheitszustand des Sees zu bestimmen. Laut diesen Messungen geht es dem See gut. Die indigene Bevölkerung ist jedoch überzeugt, dass der See erheblich leidet, und fordert, dass er wieder auf seinen natürlichen Wasserstand gebracht wird.
In zähen Verhandlungen versuchten beide Seiten, einen Konsens zu erreichen. Im September 2018 erklärten sie die Zusammenarbeit jedoch für gescheitert. Die Lehre daraus ist für Joe-Strack: „Man muss intensiv über den allerersten Schritt, über die Fragestellung nachdenken. Indigene Völker fragen nicht: Ist der See krank? Sie fragen vielmehr: Kommen wir unseren Pflichten als Verwalter des Landes nach?“ Im Vordergrund stünden nicht Besitz und Kontrolle, sondern Fürsorge und Gemeinwohl. Eine solche Haltung helfe auch bei der Eindämmung des Klimawandels.
Kanada gewährt indigenen Bevölkerungen weitreichende Rechte
Allerdings, sagte die Kanadierin, sei auch der indigenen Bevölkerung ihre traditionelle Denk- und Lebensweise schon ein Stück weit entglitten. Früher hätten die Menschen bei einem Feuer ihre Habseligkeiten im Boden vergraben und seien erst zurückgekommen, wenn die Gefahr vorbei war. „Heute aber haben wir Autos und Häuser und sind genauso in die Gesellschaft eingegliedert wie alle anderen. Wir haben unsere Verbindung mit den Tieren verloren, wir haben das Zuhören verlernt.“ Mit ihrem Unternehmen Subarctic Research & Strategy leitet Joe-Strack zurzeit die Entwicklung eines progressiven Flächennutzungsplans für das traditionelle Territorium ihrer First Nation. Wichtiger als finanzieller Gewinn sei dabei, eine harmonische Verbindung der Menschen mit dem Land zu fördern.
Dass die kanadischen First Nations über ihr traditionelles Territorium bestimmen könnten, versetze sie in eine privilegierte Situation, sagte Volker Rachold: Kein anderer Arktis-Staat gewähre seinen indigenen Bevölkerungen so weitreichende Rechte. Ein Bewusstsein für den Wert von indigenem Wissen habe sich jedoch auch in anderen Ländern entwickelt, betonte Vilena Valeeva. „Aus meiner Erfahrung mit dem Volk der Nenets in Russland kann ich berichten, dass partizipative Szenarioverfahren gut geeignet sind, um die indigene Bevölkerung in die Entscheidungsfindung einzubinden.“ Diese Methode, verschiedene Ansätze für eine künftige Entwicklung zu entwerfen, ermögliche die Integration divergierender Geisteshaltungen und Wissensformen.
Anwendungsnahe Forschung in der Arktis gefragt
Die Zusammenführung abweichender Perspektiven auf ein Thema müsse eigentlich viel früher im Leben geübt werden, sagte Kathrin Stephen. „Die Verknüpfung verschiedener Fachbereiche ist wichtig, sie muss schon in der Schule beginnen, mit fächerübergreifendem Lernen. Zudem müssen wir alle viel mehr auf unseren eigenen Standpunkt reflektieren, um uns seiner eingeschränkten Geltung bewusst zu werden.“
Für Wissenschaftler bedeute dies im Umgang mit den Arktis-Bewohnern, dass sie sich stärker den Auswirkungen des Klimawandels zuwenden müssen, erläuterte Hugues Lantuit. „Die Menschen fragen häufig nicht, was es mit der Küstenerosion auf sich hat, sondern welche Folgen die Erosion haben wird.“ Sie interessierten sich daher besonders für anwendungsnahe Forschung.